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Pressefreiheit: Können Facebook & Co den Journalismus retten?

Videodokumentation zum Fachgespräch vom 8. Dezember 2017 in Berlin

EurActiv - PROMOTED CONTENT

Die Verfolgung von kritischen Journalisten in der Türkei hält an. Betroffene Journalistinnen und Journalisten und internationale Fachleute diskutieren in Berlin, in welchem Maße türkische Exilmedien sowie Publikationen über soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter alternative Plattformen kritischer Presse sein können.

Pressefreiheit in der Türkei - Neue Wege für einen freien Journalismus?

In Fachgesprächen wurde die Rolle sozialer Netzwerke als Vermittler von kritischem Journalismus in der Türkei sowie, als Reaktion auf die fortgesetzte Beschneidung kritischer Presse, das Etablieren von türkischen Exilmedien in Deutschland erörtert. Davon ausgehend wurde diskutiert, ob europäische Gesetzgebung auf nationaler wie supranationaler Ebene dazu beitragen soll und könnte, die Publikation via sozialer Medien zu stützen und abzusichern.

 

Pressefreiheit: Können Facebook & Co den Journalismus retten?

Die Veranstaltung wurde von der Delegation DIE LINKE. im Europäischen Parlament und dem European Center for Press & Media Freedom organisiert. Hier findet sich die Abschlussrede von Martina Michels (Transkript):

 

„Nur der Mut kann die Menschen schützen.“

"Wir haben soeben die Erklärung der zivilen Organisationen "Joint Statement on Turkey to the European Union" vernommen und ich bin sehr dankbar dafür, denn ich kann die Forderungen allesamt nur unterstreichen. Sie skizzieren genau unsere Hausaufgaben, die wir jetzt zu erledigen haben.

Verehrte Gäste, Journalistinnen und Journalisten, politische Aktivistinnen, Vertreterinnen von Medienfreiheitsinitiativen und Exilmedien und Medienprojekten, ich habe am heutigen Tag viel Neues hinzugelernt und ich denke, es wird vielen ähnlich ergangen sein. 

Fachgespräche haben den großen Vorzug der Intensität und einer Expertise, die zwischen Panels und Publikum changiert und sich gegenseitig ergänzt. Wir haben nach der Rolle von großen Plattformen und sozialen Medien wie twitter und facebook gefragt. Dabei sind wir davon ausgegangen, dass sie für unabhängigen Journalismus durchaus Chancen bieten können, die aber auch Beschränkungen beinhalten. Auch sie sind letztlich nicht wirklich frei, sondern konzerngesteuert. 

Zugleich können die Chancen überdies durch staatliche Kontrolle und Zugangsbeschränkungen zunichte gemacht werden. Ich habe noch gut in Erinnerung, wie mitten in der Wahlbeobachtung im November 2015 in Sur, in der Altstadt von Diyarbakır, der Kurznachrichtendienst Twitter nicht funktionierte. Wir waren nicht in der Lage, schnell zu informieren, Pressemeldungen zu versenden, Bilder zu schicken. Unsere Eindrücke konnte mein kleines Team damals vorerst nur in analoge Reiseberichte pressen und erst zwei Tage später veröffentlichen. 

Heute haben wir unter anderem diese Art Barrieren, staatliche Eingriffe in die Medienfreiheit unter die Lupe genommen und Widerstände für eine unabhängige Berichterstattung zusammengetragen.

Im 1. Panel haben wir erfahren, wie inzwischen sogar eine Art Selbstzensur bei den Nutzern entsteht. Sie verabschieden sich aus Angst vor Verfolgung häufig aus den sozialen Netzwerken. Der freie mediale Austausch ist damit eingeschränkt und damit das hohe Gut der Medien- und Meinungsfreiheit. 

Zugleich wurde heute immer wieder gefragt, wie europäische Gesetzgebung auf nationaler und supranationaler Ebene besser zur Medienfreiheit beitragen kann. Und genau an dieser Stelle haben wir neuralgische Punkte identifiziert, die uns regelrecht auffordern, besser heute als morgen, den Austausch fortzusetzen.

Ich will das gern nochmal etwas plastischer machen. Wir konstatieren nicht zum ersten Mal, dass Rechtswege zur Sicherung von Grundrechten in einem Bermudadreieck zwischen nationalem, supranationalem und europäischen Recht verschwinden.

Akademiker, Journalisten und Vertreterinnen und Vertreter der politischen Opposition in der Türkei, haben unter anderem gegen die Aussperrungen in den kurdischen Städten, gegen Berufsverbote und Haft ohne Anklage vor dem Europäischen Menschengerichtshof geklagt. 

Doch immer wieder gerieten und geraten viele von ihnen in dieselbe Situation. Ihre Klagen werden abgewiesen, da die Rechtswege in der Türkei nicht ausgeschöpft seien. Andererseits wurde von der Venedig-Kommission, also von den Verfassungsexperten des Europarates, in mehreren Gutachten die Instrumentalisierung des Ausnahmezustandes in der Türkei scharf kritisiert. Dabei wurde die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei klar infrage gestellt. 

Hier beisst sich, kurz gesprochen, die Katze in den Schwanz. Die Leidtragenden sind die Klagenden, denen die Garantie von Menschenrechten auf diese Weise verwehrt bleibt. Nun könnte man davon ausgehen, dass in solch einer Lage die vierte Gewalt der einzige Hebel ist, damit dies in der europäischen Öffentlichkeit zur Sprache kommt. 

Doch genau dort sind die Problemlagen nicht geringer als bei allen anderen Menschenrechtsbrüchen. Deshalb muss die Frage erlaubt sein, was der Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wert ist, wenn seiner Einklagbarkeit für türkische Journalistinnen und Journalisten mit Hürden versehen wird, die die Klagenden nicht mehr in der Hand haben, wie die Rechtssituation in der Türkei? 

Panel 1 Can twitter and facebook rescue independent Journalism?

 

 

Andererseits gilt gerade die Türkei nach wie vor als sicherer Drittstaat. Die politischen Hintergründe muss ich hier niemandem aufdröseln. Dies erschwert zum einen die bürokratischen Hürden für ein Exil, für eine Anerkennung als Schutzsuchender wegen politischer Verfolgungen, wegen Verfolgungen wegen des Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder der Religion. Der gesamte sichere Drittstaaten-Ansatz verschleiert auch die Unfreiheit der Medienarbeit selbst.

Verehrte Gäste, die Nachrichten der vergangenen Tage um die Kronzeugenaussagen des türkisch-iranischen Geschäftsmannes Reza Zarrab haben jetzt die Korruptionsvorwürfe gegen Erdoğan von 2013 aktualisiert und dokumentiert. Ich vermute, es ging ihnen beim Verfolgen dieser Meldungen ähnlich wie mir. Ich war unwillkürlich an die staatliche Besetzung ganzer Redaktionsstuben und Medienhäusern erinnert, an den Cumhuriyet Prozess und an Can Dündar, der jetzt hier im Exil weiterarbeitet.

Ich bin sehr froh, dass Can Dündar heute hier bei uns ist – dieser mutige Mann, mit dem mich in meiner Arbeit sehr viel verbindet. Can Dündar ist nämlich so was wie ein Mentor für mich, ohne dass er es weiß. Ich erinnere mich noch gut daran, wie Du, Can, vor einiger Zeit, kurz nach dem Ausnahmezustand zu uns nach Brüssel in die Fraktion kamst. Die Wut über Erdoğan war damals schon groß und alles schrie nach Abbruch der Beitrittsverhandlungen. Du hast uns (vor allem mich) sehr nachdenklich gemacht, als Du uns ins Gewissen geredet hast. „überlegt genau, was ihr jetzt macht. Ihr würdet damit die Hälfte des Landes, die gesamte Opposition, im Stich lassen!“ Und diese Sichtweise habe ich mir bis heute zu Eigen gemacht. Das wird auch so bleiben, auch wenn ich damit gegen Widerstände, selbst in unseren eigen Reihen in der Linken kämpfen muss.

Heute möchte ich auch daran erinnern: Die Medienlandschaft kurdischer Sender traf die Machtdemonstrationen Erdoğans übrigens in besonderer Weise. Selbst kurdische Kindersender, die die Biene Maja ausstrahlten, wurden geschlossen (ich habe damals eine Pressemeldung betitelt „Biene Maja in der Türkei unter Terrorverdacht“) Auch kurdische Auslandssender in Frankreich wurden angehalten, ihre Arbeit einzustellen.

Journalistinnen und Journalisten, die unabhängig berichten wollten und wollen - von Recherchen über die Korruption in Regierungskreisen bis zur Vertreibung der Kurden, von der Bescheidung von Frauenrechten bis zur Verfolgung von Queers - alle sind - oft vom mehrfachen Repressionen bedroht und den Folgen ausgesetzt. Ihre Anerkennung als politisch Verfolgte sollte selbstverständlich sein. 

Die Schaffung von Arbeits- und Existenzmöglichkeiten muss dabei ein Anliegen in allen EU-Staaten sein. Mustafa Kuleli hat heute die Rolle der Exilmedien sehr deutlich hervorgehoben. Vieles, was einer dringenden Harmonisierung in der europäischen Gesetzgebung harrt und mehr Medienfreiheit garantieren würde, liegt im Argen. Ganz oben steht der völlig unzulängliche Whistleblowerschutz und damit zugleich der Schutz von journalistischen Quellen. Die EU-Kommission bringt es fertig, in Gestalt der Wettbewerbskommissarin Vestager festzuhalten, dass zum Beispiel die Verurteilungen von Antoine Deltour und Raphaël Halet im Lux Leaks-Prozess haltlos und falsch seien. 

Die Kommission bekommt es bis zum heutigen Tage nicht gebacken, trotz mehrerer deutlicher Initiativberichte des Parlaments, endlich vernünftige Regulierungen vorzuschlagen. Dies wäre ein Meilenstein für mehr Medienfreiheit. Solch ein Schritt würde auf besonders repressive Staaten, wie die Türkei, die ja wiederum noch immer Mitglied im Europarat ist, seine Ausstrahlung nicht verfehlen. Medienfreiheit muss genauso grenzüberschreitend funktionieren, wie die Ströme des Geldes und der Waren, um es mal sehr freundlich auszudrücken.

Zum zweiten - um bei der europäischen politischen Ebene zu bleiben, muss die Unabhängigkeit der Aufsichtsgremien von Medien gesichert sein. Noch immer wird hier im Rahmen der Revision der Audiovisuellen Medienrichtlinie zwischen dem Rat, der Kommission und dem Parlament heftig gestritten, wie denn eine europäische unabhängige Medienaufsicht aufgestellt werden muss. Und da dies einmal mehr in einem Trilog geschieht, lässt die Transparenz dieser Verhandlungen sehr zu wünschen übrig. Das stärkt nicht gerade die Akzeptanz der europäischen Institutionen und ist damit auch Teil der demokratischen Defizite europäischer Politik.

Ich muss an dieser Stelle alle Problemlagen der Medienkonzentration und der wirtschaftlichen Beeinflussung, von den Angriffen auf die Netzneutralität bis zum unnötigen Leistungsschutzrecht für Presseverleger u. a. ausklammern. Das sind weitere Baustellen europäischer Gesetzgebung, die allesamt die Medienfreiheit berühren. Mit deren Erörterung würden wir allerdings problemlos mehr als eine Konferenz füllen.  Deshalb möchte ich nochmal zu unserem Austausch in den Fachgesprächen zurückkommen.

Was ich als Politikerin im Europäischen Parlament jahraus jahrein beobachten kann, ist eine chronische Unterfinanzierung von Kultur- und Medienprojekten in den Regionen. Da wird der Europarechtler oder die Kommissarin schnell einwenden: Nun ja, liebe Abgeordnete Michels! Sie wissen schon, dass Medien, Kultur, Bildung, Wissenschaftsorganisation, Steuer- und Sozialgesetzgebung Sache der Mitgliedstaaten sind. Wir bekämen an dieser Stelle allerhand Souveränitätsprobleme, wenn wir dort Regulierungen und Vergemeinschaftung von Politik an uns reissen wollen. Aber, angesichts einer solchen Argumentation erwacht in mir regelmäßig die europäische Regionalpolitikerin. Deshalb kritisiere ich immer wieder die schwerfälligen Instrumente der europäischen Förderpolitik in den verschiedensten Bereichen – und die chronische Unterfinanzierung bei Medienfreiheits- und Kulturaustauschprojekten ist darin nur ein Baustein. 

Ganz grundsätzlich wird es, wenn der bevorstehende Brexit dazu benutzt wird, Korrekturen an der EU-Förderpolitik vornehmen zu wollen. Die europäische Kohäsionspolitik soll bei den neuesten Kommissionsideen nämlich generell auf den Prüfstand gestellt werden. Europäische Aufklärung beginnt in lebendigen Regionen und zentral gehört dazu unabhängiger Journalismus - von der Lokalpresse bis zum Blog, von der Medienplattform für Exiljournalisten bis zum Internetradio. Europäische Öffentlichkeit beginnt beim kleinteiligen Schutz von Medienfreiheitsinitiativen und bei großzügigen und unkomplizierten Förderungen von Vernetzungsprojekten, wie dem Europäischen Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF), das sich hier heute aktiv eingebracht hat. Wir nehmen den Vorschlag für mehr Unterstützung bei der europäischen Finanzierung von unabhängigen Plattformen und Medienoutlets in unsere Hausaufgaben auf.

Denn nur so gewinnt europäische Politik Ausstrahlung in Drittstaaten, in denen staatliche Repressionen walten und nicht mehr geahndet werden. Ich denke, dass es heute sehr deutlich geworden ist, welche Kraft und welche Hoffnung in kleinen und großen Medienanstalten stecken, weil sie mit einem eigenen ethischen Kompass der Freiheit ausgestattet sind. Damit trotzen sie den Fehlstellen europäischer Politik und den ausbleibenden nationaler Garantien für Medienvielfalt und Medienfreiheit. Zübeyde Sari hat heute einen wunderbaren Satz geprägt: „Nur der Mut kann die Menschen schützen.“ Und genau das sollte unser künftiges Leitmotiv sein. 

Verehrte Gäste, wir haben gleich in zwei Stunden, Gelegenheit, unsere Debatten - über den Fokus Türkei - hinaus, im „Europäischen Salon“ bei der Tageszeitung Neues Deutschland fortzusetzen. Das wird bereits die zweite Veranstaltung dieser Reihe, die wir zum europäischen Austausch ins Leben gerufen haben. Zugleich sollten wir den heutigen Tag für Verabredungen und konkrete Versprechen einer weiteren Zusammenarbeit nutzen. Ich bedanke mich an dieser Stelle noch einmal beim Europäischen Zentrum für Presse- und Medienfreiheit, bei allen speakern und Teilnehmern des Fachgesprächs und beim Europäischen Haus für die Möglichkeit, die Arbeit von Medienfreiheitsinitiativen und Medienmachern vorzustellen. Dank gilt den Dolmetschern und Dienstleistern. Nicht zuletzt bedanke ich mich bei meinem eigenen Team, vor allem bei Konstanze Kriese und Dana Ringel, die in monatelangem Einsatz diese Veranstaltung vorbereitet haben. Nur wenn man sich auf ein so tolles Team im Hintergrund verlassen kann, wird Arbeit letztlich zum Erfolg!

Damit möchte ich uns in die weiteren Ereignisse des Tages verabschieden zu denen auch die kleine Ausstellungseröffnung meines Fraktionskollegen Stelios Kouloglou aus Griechenland gehört. Und freue mich zugleich auf einen fortgesetzten kritischen Dialog. Vielen Dank."

 

Martina Michels am 8.12.2017 im Europäischen Haus

 

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