Ein neuer Kalter Krieg? Von Martin Hantke und Tobias Pflüger, Ost-West-Informationen 1/2007

Wie Erschütterungen eines immer stärker werdenden Erdbebens breiten sich in jüngster Zeit die Nachrichten eines neuen kalten Krieges in Europa aus. Schon lange gärt es im Verhältnis, USA, Europäische Union, NATO auf der einen Seite und Russland auf der anderen. Als Stichworte seien nur genannt Heranrücken der NATO an die russischen Grenzen, die neuen Kriege der Koalitionen der Willigen in Irak und Afghanistan, vom Westen beförderte Regimewechsel in der Ukraine und Georgien und westliche Unterstützung für russische Oligarchen, die sich offen zu ihren Aktivitäten gegen die russische Regierung bekennen. Insgesamt alles Schritte, die Russland kaum anders als eine wachsende Bedrohungssituation analysieren konnte.

Seitdem die Pläne zur Stationierung von US-Raketenbasen in Polen und Tschechien Anfang 2007 bekannt geworden sind, hat sich die schwelende Konfrontation in eine offene Eskalation im Ost-West-Verhältnis verwandelt. Die Zerstörung antifaschistischer Denkmäler in Estland, die russische Reaktion und die Rückendeckung von USA, EU und NATO für das estnische Vorgehen spitzen die Eskalation auch noch ideologisch zu. Für zusätzliche Dynamik dürften die für 2008 geplante neue NATO-Erweiterungsrunde auf dem Balkan und die zunehmende militärpolitische Kooperation von EU und NATO bei den Militäreinsätzen im Kosovo, Afghanistan und Sudan sorgen.

Raketenstationierung

Das prestigeträchtigste Rüstungsprojekt der US-Regierung ist zur Zeit die Nationale Raketenabwehr - die National Missile Defence (NMD). Ziel ist, dass die USA in die Lage versetzt werden, Atomraketen anderer Staaten auf ihrer Flugbahn im Weltall bzw. in der Erdathmossphäre zu zerstören. Dabei muss dieses so genannte Abwehrsystem Raketen im Anflug mittels Radarstationen und Satelliteninfrarottechnik erkennen können. Der Begriff des Raketenabwehrsystems in allerdings irreführend, weil es sich nicht um ein Verteidigungsinstrument, sondern um ein Waffensystem handelt, dass Angriffe mit Atomwaffen ermöglicht, ohne einen Gegenschlag des angegriffenen Staates befürchten zu müssen. Sollten die USA hierzu wirklich in der Lage sein, würde sich das bisherige Gleichgewicht des Schreckens grundlegend verändern. Das wichtigste wissenschaftliche Pentagon-Beratergremium, das Defense Science Board - führt dazu aus: "Wenn die USA über eine solche (Erstschlagskapazität) gegenüber irgendeinem Land verfügen, dann behandeln wir dieses Land in derselben Kategorie wie ein mit Massenvernichtungsmitteln bewaffneter Schurkenstaat - das bedeutet, ein Land, dessen Massenvernichtungsmittel die USA mit akzeptablen Risiken neutralisieren kann.". Das heißt der Aufbau eines solchen Potentials mittels eines Raketenabschusssystems würde das geopolitische und geostrategische Gewicht der USA erheblich verstärken und Atomwaffenstaaten, wie Russland oder China zu "Schurkenstaaten" wie der Irak unter Saddam Hussein und Iran degradieren. Die Folgen dieser Entwaffnung würden aber nicht nur das Drohvermögen der USA erheblich erhöhen, sondern auch Interventionskriege ganz anderer Art, als wir sie bisher kennen, ermöglichen. Um dieses Ziel zu erreichen sollen bis 2011/12 deshalb in Tschechien eine Radaranlage und in Polen eine mit 10-Abwehrraketen bestückte Batterie entstehen. Es handelt sich dabei um Raketen desselben Typs, wie sie auch schon in Alaska und Kalifornien stationiert werden. Die Gesamtkosten werden auf 1,6 Mrd. Euro geschätzt. Weitere Radaranlagen die in das US-amerikanische NMD einbezogen werden, befinden sich auf der US-Militärbasis Thule (Grönland), die Radarbasis in Flyingdale im nordenglischen Yorkshire. Eine besondere Rolle spielt das in der norwegischen Finnmark praktisch direkt der russischen Grenze nur wenige Kilometer vom Flottenstützpunkt in Murmansk entfernt gelegene Vardö. Die Bundesregierung hat erst kürzlich auf Anfrage der Grünen-Fraktion bestätigt, dass "auch Dänemark das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland durch bestehende Radarstellungen in das nationale Raketenabwehrprogramm der USA eingebunden" (BT-DRS 16/4834) sind. Die Anlagen in Tschechien soll offensichtlich ein weiterer Stein in diesem Überwachungssystem sein. Nach Medienberichten gibt es zudem Planungen für eine Radarbasis im Südkaukasus, vermutlich in Georgien eventuell verknüpft mit der Nutzung von den USA betriebenen Radarstation auf Zyperns, die bereits für das von der US-amerikanischen National Security Agency (NSA) betriebene Abhörsystems Echelon genutzt wird.

Scheinbegründungen

Als offizielle Begründung der USA für den Aufbau der Raketenbasen muss der Schutz vor Angriffen mit Atomraketen des Irans und Nordkoreas herhalten. Doch diese Version scheint wenig plausibel. Abgesehen von den fehlenden Interkontinentalraketen Nordkoreas und Irans, verfügen diese Staaten auch über keine Fähigkeiten diese Raketen mit Atomsprengköpfen zu bestücken und wäre durch das immense US-amerikanische Atomwaffenpotential gleich einem vielfachen Overkill ausgesetzt. Warum die Radarstationen und Abfangraketen insgesamt entlang der russischen Grenzen stationiert werden, um Atomraketen von der koreanischen Halbinsel oder aus der Mittleren Osten abfangen zu können, bleibt das Geheimnis der US-Regierung und weist dringlich auf ein ganz anderes Ziel hin. Inzwischen wurde eine zweite Argumentation aufgezogen, um die russischen Besorgnisse zu entschärfen: Man könne das so genannte Abwehrsystem unter den Schirm der NATO stellen. Dies wird insbesondere von Deutschland vorgetragen. Gewichtige US-amerikanische Stimmen beharren jedoch auf einer ausschließlichen US-Kontrolle. Abgesehen von der Frage warum ein NATO-System gegenüber einer ausschließlichen US-Kontrolle für Russland einen wirklichen Unterschied machen solle, weist vieles darauf hin, dass wenn es denn einen solchen NATO-Schirm geben sollte, er dann zusätzlich zu den US-Anlagen aufgestellt werden würde. Russland hätte dann allen Grund zu noch gravierender Besorgnis.

In der Öffentlichkeit ist bisher eher selten das Argument gefallen, dass die geplante Raketenstationierung in Osteuropa auch eine offene Verletzung des Geistes des ABM-Vertrages gegenüber Russland durch die USA bedeutet. Genau dies ist aber der Fall. Die Aussetzung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte, des KSE-Vertrages, der im Westen von wesentlichen Vertragspartnern nicht ratifiziert wurde, durch Russland, ist sicherlich zu bedauern, aber als eine folgerichtige Reaktion Moskaus für den Umgang der USA und den Europäern mit dem ABM-Vertrag zu sehen. Der ABM-Vertrag aus dem Jahr 1972 war ein Vertrag zwischen den USA und der UdSSR zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (Anti Ballistic Missiles, ABM). Er war Ergebnis der - Strategic Arms Limitation Talks - der SALT-Verhandlungen. Am 13. Juni 2002 traten die USA einseitig vom Vertrag zurück, nachdem sie, wie vertraglich festgelegt, 6 Monate zuvor eine Absichtserklärung mit der Ankündigung ihres Austritts abgegeben hatten. Der ABM-Vertrag verbot explizit den Aufbau einer landesweiten ABM-Abwehr (Art. 1), die Entwicklung see-, luft- oder weltraumgestützter ABM-Systeme sowie mobiler Systeme (Art. 5,1), die Aufstellung von Frühwarn-Radars (Art. 6, b). Zugelassen waren anfangs zwei später eine ABM-Stellung mit 100 Abfangraketen und die dazugehörigen Radaranlagen. Durch die durch die Begrenzung auf zwei ABM-Stellungen, die zudem 1300 Kilometer voneinander entfernt sein mussten, wurde einer Raketenabwehr verhindert. So blieb die Möglichkeit der wechselseitigen Zerstörung gewahrt. Ein weiteres atomares Wettrüsten sollte durch den ABM-Vertrag zumindest eingehegt werden. US-Präsident George Bush hatte in seiner Erklärung vom 13.12.2001, die ein halbes Jahr später zum Rücktritt der USA aus dem Vertrag führt in unmittelbaren Zusammenhang mit den Anschlägen des 11. September 2001 gestellt. Bush erklärte er werde nicht zulassen. "dass die Vereinigten Staaten Partner eines Vertrages bleiben, der uns von der Entwicklung effektiver Abwehrsysteme abhält." Gleichzeitig versicherte er, dass sich diese Maßnahme nicht gegen Russland richten würde. Die Vereinigten Staaten und Russland hätten "neue, vielversprechendere und konstruktivere Beziehungen entwickelt." Der Kalte Krieg sollte der Vergangenheit angehören: "Wir arbeiten daraufhin, die gegenseitig zugesicherte Zerstörung durch gegenseitige Zusammenarbeit zu ersetzen.", so Bush damals. Fünf Jahre später ist davon kaum noch etwas zu bemerken. Die US-Regierung ist wortbrüchig geworden und hat ihre Kündigung des ABM-Vertrages für eine atomare Aufrüstung gegen Russland genutzt. Zudem deutet vieles darauf hin, dass bereits damals die US-Regierung die Terrorgefahr nach dem 11. September lediglich dazu benutzt hat, um ihr Projekt eines Raketenschirms gegen Russland unter dem Vorwand einer Abwehr eines Angriffs von "Schurkenstaaten" ungestört vorantreiben zu können.

Die Dynamik

Schon am 10. Mai 2007 wird es zu einer ersten offiziellen Verhandlungsrunde von den USA und Tschechien über die Aufstellung des Radarsystems kommen. Nach einigen Monaten Verhandlungen will man sich bereits handlungseinig werden. Danach könnte alles sehr schnell gehen. Wie man es auch wenden will, wird Europa dadurch erneut zum atomaren Schlachtfeld der Zukunft. Russische Gegenmaßnahmen im Bereich der atomaren Abschreckung werden schnell folgen. So soll die Entwicklung der TOPOL-M-Rakete, mit mehrenen individuell steuerbaren und semi-ballistischen Flugfähigkeiten beschleunigt vorangetrieben werden. Absehbare Folge ist auch die Kündigung durch Russland des vor 20 Jahren unterzeichneten INF-Vertrages (Intermediate Range Nuclear Forces), der das Produktionsverbot und die Zerstörung aller Raketen mit kürzerer und mittlerer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern beinhaltet. Damit würde in Europa ein neues Wettrüsten wie in den achtziger Jahren mit Mittelstreckenraketen von der Art der Pershing II und SS20 - selbstverständlich in modernisierter Form - wieder neu aufgelegt.

Frieden mit Russland - Für eine Zukunft ohne Atomwaffen

Der Einstieg in eine neue Rüstungsspirale, die Europa zum atomaren Schlachtfeld der Zukunft macht, ist in hohem Maße unverantwortlich. Die neuen US-Raketenbasen in Tschechien und Polen sind eindeutig auf eine Aggression gegen Russland ausgerichtet. Alle Begründungsversuche diese Waffensysteme sollten vor Nordkorea oder dem Iran schützen sind nicht stichhaltig. Die so genannten Raketenabwehrsysteme sind de facto Angriffswaffen und gefährden Frieden und Sicherheit in Europa. Aussagen, die Raketenabwehr solle unter den NATO-Schirm kommen, können nicht als Entspannung gedeutet werden. Ein zusätzliches NATO-System würde den Konflikt nicht beilegen, sondern nur weiter anheizen. Die deutsche Bundesregierung beteiligt sich leider an dieser Irreführungsstrategie der Öffentlichkeit.

Ein Rückfall in eine Konfrontation von Atomarmächten, wie während des kalten Kriegs, wäre eine echte soziale, ökonomische und friedenspolitische Katastrophe. Die Friedensbewegung in den USA und in Europa muss jetzt Druck machen, damit der ABM-Vertrag wieder von den USA und Russland geschlossen und eingehalten wird. Dazu gehört zu allererst der Abbau der Radarstationen Teil des US-amerikanischen Raketenschilds von Norwegen bis Zypern und die Verhinderung der Raketenstationierung in Mittel- und Osteuropa. Die Eskalationsstrategie gegenüber Russland muss beendet werden. Für Militärbasen, die den neuen Kriegen dienen sollen, darf es keine Zukunft geben. Sie müssen koordiniert ins Visier der friedenspolitischen Aktivitäten genommen werden.

Martin Hantke, Wiss. Mitarbeiter Büro Tobias Pflüger, Beirat der Informationsstelle Militarisierung

Tobias Pflüger, Linksfraktion im europäischen Parlament und Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung

Mehr Informationen zur geplanten Raketenstationierung unter: www.imi-online.de und www.tobias-pflueger.de