Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes muss auf die europäische Tagesordnung

Rede des PDS-Europaabgeordneten Helmuth Markov zur Erklärung der Kommission zum Stabilitäts- und Wachstumspakt am 21. Oktober 2002 in Straßburg

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren,

einer Politik zur Begrenzung der staatlichen Neuverschuldung in der Gesamtheit aller öffentlichen Haushalte ist nicht zu widersprechen,
wenn sich denn dies in der praktischen Umsetzung darin niederschlägt, dass auch tatsächlich Maßnahmen zur Begrenzung der
Inflation bei gleichzeitiger Steigerung des Wachstums ergriffen werden. Und hier liegt meiner Ansicht nach die Crux des heutigen
Zustandes: Die beste Möglichkeit, Wachstum zu produzieren, besteht darin, die Nachfrage zu stärken - durch Investitionen aus der
öffentlichen Hand, durch Erweiterungsinvestitionen von Unternehmen und durch privaten Konsum.

Wenn es trotz europäischem Binnenmarkt nach wie vor oberste nationalstaatliche Prämisse ist, sich innerhalb der Europäischen Union
Standortvorteile zu erarbeiten - und dies ist möglich, da es keine harmonisierte Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik gibt - dann sind
die Grundvoraussetzungen für nachhaltiges europäisches Wachstum nicht gegeben. Eine Steigerung der Binnennachfrage ist nicht zu
erreichen durch Absenkung der Löhne, da dies die Kaufkraft reduziert, ist nicht zu erreichen durch steuerliche Mehrbelastung des
Mittelstandes, der die meisten Arbeits- und Ausbildungsplätze schafft, und ist auch nicht zu erreichen, indem Großunternehmen so
entlastet werden, dass sie keine Steuern mehr bezahlen.
Wenn in einer Zeit, in der keine Inflation droht - obwohl durch die Einführung des Euros durchaus ein Preisanstieg zu verzeichnen war -
die Investitionsquoten gesenkt werden müssen, dann wirkt dies prozyklisch und verschärft den konjunkturellen Abschwung.

Die Haushalte der Nationalstaaten differieren sehr stark. Schattenhaushalte sind gang und gäbe. Es gibt also nicht einmal eine
gemeinsame Basis in der Haushaltsführung der Mitgliedstaaten.

Die Diskussion um eine Änderung des Stabilitätspaktes darf daher nicht nur aufgrund der gegenwärtig komplizierten Wirtschaftslage
geführt werden, sondern weil das Konstrukt prinzipiell nicht funktioniert. Eine Reformierung des Stabilitätspaktes muss mit einer
verstärkten europäischen Wirtschafts-, Sozial-, Beschäftigungs-, Steuer- und Umweltpolitik einhergehen, um generell Investitionen zu
beleben. Es muss möglich sein, kreditfinanzierte öffentliche Investitionen zu tätigen, selbst wenn damit die Defizitquote auf über 3%
ansteigt. Damit wäre natürlich die zwingende Verpflichtung verbunden, im Zeiten konjunkturellen Aufschwunges die
Schuldenstandsquote abzubauen.

Die bei Überschreitung der Stabilitätspaktkriterien angedrohten finanziellen Strafen verstärken die Belastung der öffentlichen Haushalte
noch. Weitaus sinnvoller wäre es, den Gegenwert dieser Strafen für Investitionen einzusetzen.

In einem Wort: Investive Ausgabenbeschränkung in schwieriger Wirtschaftslage entbehren jeglicher wirtschaftlicher Vernunft. Aus
diesem Grund ist die Reform des Stabilitätspaktes auf die europäische Agenda zu setzen.